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Kapitel 2: Plötzlich weg
Heute weiß ich, dass wir nichts weiter als dumme Spielfiguren waren. Tessi und ich kannten weder den Namen des Spiels, noch seine Regeln. Und was hätte uns dieses Wissen auch genützt? Es fällt mir immer noch schwer, diese Tatsache zu akzeptieren. Trotzdem möchte nichts von dem vergessen, was wir erlebt haben.
Aber ich will alles der Reihe nach erzählen.
Ich weiß nicht mehr genau, wie es überhaupt angefangen hat. Ich glaube, Tess und ich waren zu Hause, in meinem Zimmer. Wir saßen wohl am Tisch und spielten Schach. Ja, so könnte es gewesen sein. Dann wurde es kurz dunkel, und zack, waren wir woanders. Auf dieser Waldwiese.
Natürlich erschrak ich megastark. Wem würde das nicht so gehen, wenn er plötzlich weggebeamt wird und nicht weiß, wieso und wohin?
Da standen wir nun in der freien Wildbahn ratlos herum. Das einzig Vertraute, an das wir uns klammern konnten, waren unsere normalen Hausklamotten. Tessi trug ihre blauen Lieblingsjeans und ihren pinkfarbenen Ströperpulli mit dem Bild vom Einhorn. Von diesem Zauberwesen ist sie im Moment ein Fan. Ich hänge so wie die meisten in meinem Alter gerade an der Modefarbe Schwarz, also trug ich schwarze Hosen und ein schwarzes T-Shirt, und zwar das mit dem coolen Tigerkopf vorn auf der Brustseite. Na ja, das war noch nicht alles. Unsere Sportschuhe verrate ich euch auch noch, obwohl Mutti das nie im Leben gutgeheißen hätte: Straßenschuhe im Haus? Das geht gar nicht!
Aber jetzt hier zu sein, das ging ja eigentlich auch nicht.
Mir wurde sofort klar, dass ich für meine kleine Schwester verantwortlich war. Das ist ganz normal, wenn man als Bruder fünf Jahre älter ist, oder etwa nicht? Ich hielt also die verschreckte Tessi fest an der Hand und versuchte mit allen Sinnen zu verstehen, was los war.
Die Waldwiese, auf der wir uns unfreiwillig aufhalten mussten, war ziemlich groß. Sie badete sich im Licht der Nachmittagssonne. Ich fühlte die Wärme auf meiner Haut. Gras und Kräuter wuchsen knöchelhoch auf, aber viel höher nicht, fast so, als ob hier jemand regelmäßig mähen würde. Blaue und rote Libellen schwirrten wie wendige, kleine Helikopter über die Flur, auf der Jagd nach Insekten. Gefährliche Tiere konnte ich nirgendwo sehen. Ein leichter Wind spielte mit Tessis schulterlangen Haaren. Über meine blonden Stoppeln streichelten die Windfinger nur sanft hinweg. Als ob sie unsere Angst wegwischen wollen, dachte ich. Vögel zwitscherten. Es roch nach feuchter, warmer Erde und nach wilden Blumen. Alles schien so friedlich, wie in einem Traum.
Ich atmete erleichtert auf und ließ Tessis Hand endlich los. Sie war sehr brav, obwohl sie es sonst faustdick hinter den Ohren hat. Diesmal blieb mein kleiner Windfang ruhig neben mir stehen und schaute sich ebenfalls aufmerksam um. Ich fand das sehr vernünftig. Einerseits wussten wir schließlich nicht, welches Abenteuer uns hier erwartete. Andererseits wünschten wir uns, dass unser „Traum“ möglichst schnell vorbei war.
Aber träumten wir überhaupt? Und wenn ja, wie konnten wir wieder wach werden?
Last Updated (Tuesday, 29 December 2020 11:17)
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