Die Nebelhexe trickst Frau Sonne aus

„Hallo, Nebelhexe“, sagte die Sonne. „Willst du mich schon wieder fragen, ob du noch mehr Novembernebel machen darfst?“ „Falsch geraten, Frau Nachbarin“, kicherte das graue Weiblein. „Ich bin auf dem Weg zum Wegschnuffhof, weil ich meinen Keller entrümpelt habe.“ Die Sonne verdrehte genervt die Augen. „Das heißt nicht Wegschnuffhof, sondern Wertstoffhof“, verbesserte sie. „Zeigst du mir die Sachen mal?“ „Kannst in meinen Handwagen gucken“, meinte die Nebelhexe großzügig. „Wenn dir was gefällt, darfst du es behalten!“ Das ließ sich die Sonne nicht zweimal sagen. Sie grub sich neugierig durch verbeulte Töpfe, rostige Pfannen und abgetragene Schuhe hindurch, bis sie auf einen Spiegel stieß. Er saß in einem hölzernen Rahmen, besaß einen geschnitzten Ständer und hatte noch keine einzige Schramme. „Ist der hübsch“, flüsterte die Sonne. „Ich habe in meinem Haushalt keinen einzigen Spiegel mehr, seit mir der letzte weggeschmolzen ist...“ „Du kannst ihn haben“, brummte die Nebelhexe. „Aber ob er für dich besser geeignet ist als seine Vorgänger? Du siehst ja selbst, er ist aus Holz. Er wird verbrennen, wenn du ihn mit deinen Glutaugen betrachtest.“ „Ich werde meine Temperatur absenken, dann passiert ihm nichts“, versprach die Sonne. Sie löschte ihr Feuer, trug ihren neuen Schatz ins Haus und setzte sich bewundernd vor ihn hin. Ihre Himmelsreise vergaß sie.

Genauso hatte die Nebelhexe es geplant. „Ja, so ist es gut“, kicherte sie. „Guck du nur weiter in deinen Spiegel, du eitles Dummerchen. Inzwischen werde ich mir das Novemberwetter so zurechtmixen, wie es mir gefällt!“ Sie warf ihren Trödelkram achtlos in die nächste Ecke, wählte ihren besten Nebel aus und deckte die ganze Welt damit zu. Alles wurde grau, feucht und kalt und man konnte keine zwei Meter weit sehen.

Natürlich blieb das nicht ohne Folgen. Die Schulkinder gingen nicht zur Schule, sondern verirrten sich rein zufällig ins Kino. Im Zoo saß der Löwe ratlos vor einem Kilo Mohrrüben, weil ihm der Wärter nichts anderes zum Frühstück hingestellt hatte. Im Wald spielten die Tiere Verstecken, anstatt nach Futter zu suchen. Zuerst war das ganz lustig. Aber nach einigen Stunden knurrten ihre Mägen vor Hunger und sie begannen in ihren nebelfeuchten Fellen zu frieren. Da ärgerten sich die Tiere über das seltsame Wetter und sie wollten wissen, wo denn die warme Sonne geblieben war.

Die schlaue Nebelhexe lachte, als sie das hörte. „Die Sonne hat das Wettermachen völlig vergessen, weil sie ein neues Spielzeug hat. Jaja, so was kommt vor! Ich würde ihr zwar den Spiegel wieder wegnehmen, aber nur unter einer Bedingung“, verkündete sie. „Der November soll zukünftig mein eigener Monat sein. Da will ich soviel Nebel herbeizaubern, wie es mir Spaß macht!“ Den Tieren blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Seitdem lässt sich die Sonne im November seltener blicken, und manchmal rührt das graue Weiblein morgens eine so dicke Nebelsuppe an, dass wir noch bis zum Mittag etwas davon haben – und hoffentlich treffen wir uns dann nicht alle aus Versehen im Kino!

Marianne Thiele


Last Updated (Sunday, 17 September 2023 09:05)