(Short Story für Tierfreunde)
Hast du schon einmal eine richtige Gruselgeschichte gelesen? Ich meine, so eine, wo aus dem Spiegel ein blutrünstiges Monster springt oder wo ein Vampir zähnefletschend an der Haustür klingelt und dich zum Essen abholen will?
Klar, wirst du sagen. Solche abgefahrenen Geschichten kennt doch jeder!
Stimmt, mein Freund. Jeder hat so etwas Gruseliges schon mal gelesen und hinterher hat er vielleicht sogar gedacht: So was möchte ich auch mal erleben!
Ich habe es erlebt. Und deshalb schreibe ich jetzt alles so auf, wie es wirklich passiert ist. Denn erzählen kann ich es keinem. Nicht mal der Minni, obwohl die meine beste Freundin ist.
Eigentlich ist sowieso die Minni an allem schuld. Angefangen hat es nämlich damit, dass sie mich vor drei Wochen angerufen hat. Ich überlegte zu dem Zeitpunkt gerade, wie ich einen langweiligen Sommerferientag interessanter machen könnte. Mir ist aber nichts Rechtes dazu eingefallen. Da klingelte das Telefon, und als ich erfreut den Hörer abnahm, hing die Minni am anderen Ende dran.
„Du, Evi“, hat sie geflötet, „du liest doch gern Gespenstergeschichten?“
Das war eine ausgesprochen doofe Frage, weil das schließlich jeder von mir weiß.
„Hm. Sag schon, was du willst“, versetzte ich deshalb ungnädig.
„Ich will eine Wette mit dir abschließen. Und die hat was mit Mut und mit Gruseln und mit Gespenstern zu tun. Ist also genau dein Fachgebiet! Warte - ich komme mal schnell zu dir rüber!“
Ich wurde hellhörig. Eine halbe Stunde später hockte Minni bei mir in der Küche, aß ungehemmt meine liebsten Schokoladenbonbons und erklärte mir dabei laut schmatzend ihr Vorhaben.
„Du weißt doch, dass meine Großeltern in Mersekow wohnen“, sagte sie. „Ist eine verdammt einsame Gegend, aber für meinen Plan ist das genau richtig. Es gibt dort ein leerstehendes Gutshaus, ein bisschen abseits vom Dorf. Da drin wohnt schon seit Ewigkeiten niemand mehr. Aber die Gemeinde kann es nicht verkaufen, und es will auch niemand was mit dem Grundstück zu tun haben, obwohl ein richtiger Park dazu gehört und ganz viel Land.“
„Warum erzählst du mir das alles, Minni?“
„Weil ich mit dir wette, dass du es keine 24 Stunden allein in dem leeren Gutshaus aushältst!“
Ich musste lachen. Was war das für eine komische Idee! „Wenn das dein toller Vorschlag sein soll, dann schenke ich ihn dir“, sagte ich spöttisch. „Die Wette kannst du getrost mit jemand anders abschließen, aber nicht mit einem Spezialisten für Gruseln, wie ich es bin!“
„Du, Evi – man sagt aber, dass es in dem Gutshaus jede Nacht spukt!“
Es verschlug mir die Sprache. Nachdem ich sie wiedergefunden hatte, rief ich: „So`n Quatsch, Minni! Ich lese zwar jede Menge Gespenstergeschichten, aber deshalb glaube ich doch noch lange nicht an Geister mit weißen Bettlaken!“
„Dann kannst du ja die Wette annehmen.“
Ich merkte, dass Minni es ernst meinte. „Zu welchen Bedingungen?“, fragte ich.
„Erlaubt sind ein Schlafsack, ein Lieblingsbuch, Lebensmittel, das Handy und eine Taschenlampe. Ich ruf dich um Mitternacht an, damit ich weiß, ob du noch durchhältst. Wenn du es schaffst, schenke ich dir einen von Majas Welpen!“
Maja ist eine schwarz-weiße Mischlingshündin. Sie gehört Minni, und die wusste natürlich, wie gern ich ein Hundebaby aus ihrem Wurf haben wollte. Die Kleinen waren da gerade 14 Tage alt und irre süß. Ich spürte, wie mein Widerstand scheibchenweise zerbröckelte.
„Abgemacht“, entschied ich. „Ich bleibe also 24 Stunden in dem blöden Gespensterhaus, und dafür krieg ich einen Hund. Und was ist, wenn ich es nicht schaffe?“
„Dann krieg ich eine Riesenpackung Schokobonbons von dir!“, sagte sie und stopfte sich kichernd den letzten aus meiner Tüte in ihren gefräßigen Mund.
Schon am nächsten Tag hatten wir die Erlaubnis unserer Eltern - für einen Besuch in Mersekow. Das Wetter war gut. Wir fuhren die 20 km mit den Fahrrädern und richteten es so ein, dass wir gegen Abend ankamen. Bei den Großeltern hatte sich nur die Minni angemeldet. Ich brauchte ja keine Unterkunft!
Der Zugang zum „Spukhaus“ führte durch den alten Gutspark. Wir radelten eine schöne Kastanienallee entlang. Die Abendsonne färbte den Himmel romantisch rot. Ich war wider Willen beeindruckt.
„Kaum zu glauben, dass niemand das Haus und das viele Land haben will“, wunderte ich mich. „Wenn das hier alles dazu gehört – der Park, die Allee und sogar der See da drüben, dann ist das doch ein Schnäppchen.“
„Interessenten gibt es genug“, behauptete Minni. „Aber sie wollen kein Spukhaus kaufen!“
Mit diesen Worten erreichten wir unser Ziel. Am schlichten, hölzernen Hoftor fiel mir dieses Schild auf:
Haus mit Park und See zu verkaufen.
VHB: nur 500,- €!
Tel. 03451 / 1239
Es kam mir ziemlich billig vor, und dieses Gefühl hätte mir eigentlich eine Warnung sein sollen, die alberne Wette schnellstens zu vergessen ... Wir stiegen von den Rädern, legten sie ins Gras und checkten sicherheitshalber erst mal die Lage.
Menschen schienen außer uns keine da zu sein. Ein altersschwacher Jägerzaun, der schon ewig keinen Farbpinsel mehr gesehen haben mochte, umgab das einsame Gehöft. Zusammen mit einer verwilderten Rosenhecke schützte er das Areal, so gut es ihm noch möglich war, vor neugierigen Blicken. Für unsere nicht ganz lupenreinen Absichten war das natürlich ideal. Wir nickten einander verschwörerisch zu, hoben unsere Fahrräder wieder auf und passierten entschlossen die Pforte. Dahinter blieben wir erneut stehen und nahmen mit detektivischer Gründlichkeit das Bild auf, was sich uns bot.
Der Gutshof sah zwar ziemlich verwahrlost aus, besaß aber dennoch einen urwüchsigen Charme. Überall spross grünes Gras. Braunes, rotes und gelbes Laub bedeckte den Boden wie ein bunter Flickenteppich. Es raschelte unter unseren Füßen, als wir langsam weitergingen. Kleine Ahornbäume, Haselnusssträucher, Birken und Ebereschen hatten links und rechts vom Hauptweg damit begonnen, das Terrain zu erobern. Zwischen den Jungbäumen fühlten sich die Wildkräuter pudelwohl. Ihre gelben und weißen Blüten lockten Bienen und Schmetterlinge an. „Dschungel feeling“, neckte mich Minni, als ein Tagpfauenauge einen Moment lang auf meinem nackten Arm landete. Ich lachte, den Schmetterling fand ich schön. Außer dem Hauptweg konnten wir noch drei weitere Wege erkennen, die einst zu den Stallungen und zu den beiden Schuppen geführt hatten.
Kra! Kra! Über dem Gutshaus kreisten Krähen. Sie krächzten verärgert, als wir näherkamen. Ich ignorierte sie und sah mir lieber das Gebäude genauer an. Es handelte sich um einen unterkellerten weißen Fachwerkbau mit zwei Stockwerken, einem baufälligen Balkon, auf dem sogar schon eine kleine Birke ungestört herangewachsen war, und zwei kleineren Erkern. An der Vorderfront zählte ich sechs Fenster. Sie waren geschlossen und keins von ihnen war kaputt. Etwas Gruseliges konnte ich bis jetzt nirgendwo erkennen.
„Den Hund kannst du schon mal für mich vormerken“, sagte ich zu meiner Freundin. Aus heutiger Sicht war das eine ziemlich leichtfertige Bemerkung. Wir lehnten die Fahrräder neben der Freitreppe gegen die Hauswand.
„Hallo! Ist jemand hier?“, schrie Minni plötzlich. So dreist ist sie immer, darüber wundere ich mich schon nicht mehr. Im Haus und auf dem Hof blieb es still. „Alles in Ordnung. Komm, wir gehen rein!“
Wir stiegen die Freitreppe hinauf. Ich zählte 13 steinerne Stufen. Der Wind hatte sie in jahrelanger Arbeit großzügig mit trockenen Blättern und jeder Menge Sand dekoriert. Er knirschte ein bisschen unter unseren Schuhen, denn natürlich fegte hier niemand etwas fort. An vielen Stellen bröckelte das Mauerwerk ab. Ich war überrascht, dass die Eingangstür nicht mal abgeschlossen war. Sie knarrte, als wir sie aufdrückten. In den Scharnieren saß garantiert der Rost. Ich erkannte, dass das Türblatt mal grün und gelb gestrichen gewesen war. Aber die meiste Farbe hatte der Zahn der Zeit längst abgenagt.
„Bitte schön, hier ist dein Zuhause für die nächsten 24 Stunden“, verkündete Minni erwartungsvoll. Sie sah mich mit großen Augen an, in denen die Neugier förmlich brannte. Bestimmt hatte sie mit sich selbst gewettet, dass ich spätestens in diesem Moment kneifen würde.
Oh, hätte ich das doch getan!
Aber natürlich kam mir so ein feiger Gedanke nicht mal ansatzweise in den Sinn. Stattdessen erwiderte ich cool: „Solange wie der Dorfpolizist nichts dagegen hat, bleibe ich hier, wie abgemacht. Wir sehen uns morgen wieder!“
Meine Stimme zitterte kein bisschen. In dieser Bruchbude würde sich niemand blicken lassen, weder ein Gespenst noch ein Polizist. Beide hätten garantiert viel zu viel Angst davor, dass ihnen ein Dachziegel auf den Kopf fallen könnte. Furchtlos trug ich meinen Schlafsack in die Eingangshalle. Den Rucksack stellte ich daneben.
„Ach, quatsch. Vergiss die Polizei. Die kommt hier nie vorbei“, versicherte Minni. „Vom Gespenst würde ich das allerdings nicht behaupten. Mit dem hast du heute Nacht garantiert noch ein Date!“
Großzügig überließ sie mir ihr letztes Käsebrötchen und gab mir zum Abschied die Hand. „Na, dann: Topp! Die Wette gilt! Morgen um ...“ – hier verglichen wir die Uhren – „21.00 Uhr hole ich dich wieder ab.“
Nun war ich auf mich allein gestellt. Ich beschloss, zuerst einen passenden Platz für meine Nachtruhe auszuwählen. Und zwar solange, wie es noch hell war! Nach reiflicher Überlegung entschied ich mich für ein Zimmer im Parterre, dessen gardinenverhangenes Fenster auf den Hof wies. Die Einrichtung entsprach mit einem Tisch, drei verstaubten Sesseln und einer altersschwachen Couch genau meiner Vorstellung von Bequemlichkeit. An der Decke hing ein messingfarbener Kronleuchter mit sechs Armen, aber für den hätte ich Kerzen gebraucht, deshalb nützte er mir nichts. Die Stubentür führte zur Eingangshalle. Das war mir ganz recht. Immerhin konnte ich ja in Ermanglung von Schlüsseln das Haus nicht abschließen.
Nach der anstrengenden Radtour fühlte ich mich rechtschaffen müde. Wie es im 1. Stock, auf dem Dachboden oder im Keller aussah, interessierte mich heute nicht mehr. „Ich werde dir wohl nicht viel zu erzählen haben, liebe Minni“, sagte ich gähnend. „Außer einigen Spinnen und Käfern lässt sich hier auch nicht das klitzekleinste Abenteuer blicken. Also dann: Gute Nacht!“
Inzwischen war es 21.00 Uhr. Draußen wurde es dunkel. Ich rollte meinen Schlafsack auf der Couch aus und ohne mich umzukleiden, kroch ich hinein, um mich endlich dem wohlverdienten Schlummer hinzugeben.
Last Updated (Saturday, 21 January 2023 06:58)